Freitag, 11. September 2009

Ghân-Buch 8 - Die Ghân in Rohan - Text


(die Gliederung ist im Buch 1 – http://GhaninRohanEins.blogspot.com )
(Über alle meine Blogs findet ihr eine Liste unter
http://mein-abenteuer-mein-leben75.blogspot.com/ )



Heft 31. DIE SEELE EINLADEN, DIE SEELE AUSLADEN – ZEUGEN UND STERBEN IM GHÂN-LAND


Eine junge Frau sagt mir mal:
solange Schwangerschaft nicht gewollt ist, nehmen wir alle gewisse Kräuter, nur wenn sie gewollt ist, nehmen Mutter und Vater die Kräuter nicht, sie bleiben dann für sich und laden einen kleinen neuen Ghân ein, zu ihnen zu kommen, – ja, welchen neuen Ghân denn? frage ich.

Das wissen wir doch auch nicht – aber wenn du eine Seele einlädst, in deiner Familie zu leben, bei euch als Mensch geboren zu werden, mit euch ein „gutes Leben“ zu leben – dann wird eine schöne Seele den Weg zu euch finden. Denn im „vorigen Leben“ haben sich viele Seelen schon auf das nächste Leben vorbereitet und während der Zeiten zwischen den Leben auf den Weg gemacht: sie haben ein waches, liebevolles und stilles Leben geführt, dann haben sie einen klaren Blick und tragen nicht so schwere Lasten mit sich. Dann können sie nach dem Tod selbst einen Weg wählen – entweder werden sie nie wieder geboren und „ihre Kerze erlischt“ oder sie wählen sich einen Platz. Die meisten wollen bei uns hier, bei den Ghân wiedergeboren werden.

Die junge Frau hat ganz andere Anschauungen über die Zeiten zwischen den Leben als der Mann aus der Ewigkeit (Heft 29, Buch 7). Für diesen ist es ja nur eine ERINNERUNG, die sich überträgt von einer zur anderen Person, aber mehr nicht. Und mich erstaunt sehr, was sie über ein voriges Leben sagen, doch mehr dazu etwas später.

Ich frage: wie geht das, „eine Seele einladen“? Und sie berichtet über das geplante ZEUGEN eines neuen Lebens:

Na, die beiden Eltern feiern dann miteinander, sie richten es sich schön ein, machen sich eine Laube draußen im Wald oder in den Wiesen und schmücken sie mit Blumen, schönen Steinen und dergleichen. Oder sie gehen vielleicht in die Festhalle, da wird dann ein Feuer gemacht und leicht und feierlich getanzt oder so etwas. Meistens ist das Paar allein, aber oft laden sie auch andere ein, dabei zu sein. Und es wird so schön gemacht, wie es schöner nicht geht – wir laden ja eine Seele ein, bei uns zu leben, das kann doch nicht so irgendwie gehen, das ist doch ein ganz besonderes Fest – oder? Wir sind doch keine Tiere! – und selbst unter den Tieren gibt es welche, die ein Fest daraus machen, auf ihre Art.

Jedes Paar hat eine eigene Art, die Einladung auszusprechen und zu feiern. Jedenfalls gehört viel Stille und Wachheit dazu, und Liebe für alle, und etwas Vorbereitung an den Tagen davor – bald werde ich dich einladen, möchtest du?

Ein paar Tage später werde ich von ihnen eingeladen. Schon Tage vorher sitzen die beiden fast immer zusammen, gehen zusammen, schwimmen zusammen im Fluß, sammeln süße Früchte und große Blumen, finden besonders schöne Steinchen und tragen alles nach Hause. Sie sind wie ein Honig-Schwalbenpaar, das sich ein besonders schönes Nest baut – die Honigschwalben habe ich nur hier gesehen. Das Ghân-Elternpaar streichelt einander den Körper, nimmt duftende Blätter, macht einen Duftsaft daraus und spielt damit – einander einreiben, unter die Nase halten ... Und oft sitzen sie bei Ulam und feiern seine Schönheit.

Das Paar trägt flatternde bunte Tücher, neu aus dem Lamedon, die sie im Wind flattern lassen. Sie tanzen umher und lachen alle an und laden alle ein, kommt und seht, wie schön wir es unserer neuen Seele machen. Der Abend kommt, an dem wir zur Festhalle gehen, alle festlich angetan, feierlich und ein wenig fröhlich. Wir alle waren vorher bei Ulam gewesen und haben gespürt, wie es ist, wenn nun eine neue Seele sich nähert. So schön haben wir in Rohan das nicht, wir sind da ziemlich unbewußt, laden niemanden ein, ich glaube, die meisten Rohirrim würden die Ghân-Art ziemlich albern finden, die Ghân aber unsere Art grausam und häßlich.

Es ist wie ein Fest mit Tanzen – nur daß das Paar immer im Mittelpunkt ist, alle wünschen Glück, alle laden eine neue Seele ein, manche bringen Glückssteinchen mit für den neuen Ghân, das sind bunte, besonders schön hell schillernde, polierte Steinchen, manche bringen Blumen oder bunte Tücher, Obst, ein Fruchtgetränk, ein paar bunte Federn, einen bunten Federschmuck für die Hütte ...

Das Tanzen – es ist wieder wie der Kranich-Tanz – wird stiller, das Paar wird von den anderen umringt. Ganz große Aufmerksamkeit ist in allen Gesichtern und Stimmen. Ein paar Leute bringen Felle heran und legen sie in die Mitte neben das Feuer. Die beiden gehen hin und setzen sich einander gegenüber, mit übergeschlagenen Beinen ... rundherum die anderen.
Nun hat sich das Paar in Tücher gehüllt. Sie sehen einander lange in die Augen, summen vielleicht etwas gemeinsam, und die anderen mit. Frau und Mann verbeugen sich vor einander und begrüßen sich, indem sie den Gott, die Göttin begrüßen. Sie verbeugen sich vor einer kleinen Statue von Ulam und bitten ihn, dabei zu sein. Sie singen eine Anrufung mit lauten Stimmen und sie Gäste summen dazu einen Grundton.

– Geliebter Ulam, wir sind ein junges Elternpaar, das eine kleine Seele einlädt.
– Geliebter Ulam, wir sind ein junges Elternpaar, das eine kleine Seele empfangen will.

– Geliebter Ulam, gib uns die Freude aneinander, daß wir eine besondere Vereinigung miteinander erleben können – den Gästen und der neuen Seele zum Genuß.

– Ich, der Vater, will der Mutter, der geliebten Frau, den Samen aus meinem Leib geben, damit für die Seele ein junger Körper wachsen kann.
– Ich, die Mutter, will den Körper der jungen Seele in meinem Leib hegen und wachsen lassen.

– Wir widmen unser Elternleben deinem Andenken, deinen Lehren.
– Demütig wollen wir die kleine Seele annehmen, wer auch immer kommen wird.

– Geliebter Ulam, hilf uns durch deine Lehren, gute Eltern zu sein.
– Geliebter Ulam, wir wollen die neue Seele annehmen und sie einladen, mit uns zu leben, bitte hilf uns dabei durch deine Lehre und dein Sein.
– Geliebter Ulam, gib uns die geistige Klarheit, die die kleine Seele an uns braucht um zu wachsen und zu reifen.


Und sie nähern einander und vereinen ihre Körper, sehen dabei zu, daß das Feuer des Anfangs verhalten bleibt und beide nicht sofort in die große Erregung geraten. Ihre Körper sind nun eins, ihre Seelen haben sich verbunden und sind eins. Und so schweben sie durch die heiligen Himmel ihrer Liebe – lange und mit ab- und zunehmender Erregung. Beide achten darauf – und sagen es einander mit leisen Worten –, daß sie gleichzeitig im Hellen und im Dunkeln sind.

Und schließlich, einander Zeichen gebend, lassen sie ganz los und lassen sich treiben in die tiefste Erregung und Vereinigung – und das ist der Augenblick, wenn die neue Seele den Eingang finden kann, nun muß sie nicht mehr suchen nach einem Schoß zum neuen Leben. Er ist gefunden. Und alle singen voller Freude über diese schöne Einladung und dieses schöne Fest! Die Erregung dieser Vereinigung spüren nun alle Gäste und sind sehr glücklich, dabei zu sein. Viele erleben in dieser Nacht das Göttliche ganz nahe, ja ihre Seelen vereinen sich mit dem Göttlichen. Denn die Erregung der Vereinigung breitet sich in den Körpern, den Sinnen und den Seelen aus und treibt sie in alle Tiefen und Höhen hinein.

Ich frage, ob sie erkennen können, welche Seele in welchem neuen Körper einkehrt und wiederum im Leben erscheint. Der „Mann aus der Ewigkeit“ ließ mir zu dieser Frage die folgende Botschaft überbringen:

Ich kann das oft ganz klar sehen, doch für die meisten Ghân ist es sehr schwer. Manche können es lernen – doch große Wachheit und Aufmerksamkeit und Menschenkenntnis gehören dazu. Und ich muß ja das erste Gesicht von früher her kennen, damit ich es wiedererkennen kann.

Auf meine Frage, ob ein Paar eine bestimmte Seele einladen kann, meint er in seiner Botschaft:

Man kann es versuchen, doch damit die Einladung gelingt, muß das Paar große geistige Klarheit und Weitsicht haben – sie dürfen sich also nicht durch die große Erregung während ihrer sexuellen Begegnung ablenken lassen, und wer kann das schon. Es wäre zu riskant, eine bestimmte Seele einzuladen, denn wenn es nicht gelingt, sind sie lange, lange enttäuscht, und das treibt einen schweren Keil zwischen die Eltern und das Kleine (das ”mißratene” Kind würden wir in Rohan dann sagen).

Das Risiko ist zu groß. Ich würde sehr abraten. Man übt ja einen Zwang auf die noch freie Seele aus. Sie hat nun nicht mehr die Freiheit der eigenen Wahl.

Später werden Säfte herum gereicht, man umarmt einander voller Freude, und das Elternpaar verharrt voller Rührung noch lange umschlungen. Verstohlen und scheu sehen sie unter ihrer Felldecken hervor und genießen die Glückwünsche und ein paar Schlucke der süßen Säfte. Die Mutter hält mit ihren Händen ihren Schoß, voller Fürsorge das Neue schützend. Der Vater sitzt nun dabei und hält besorgt seihne Hände um seine Geliebte.

Die ganze Nacht bleiben die Gäste zusammen und bewachen den Schlaf der beiden. Am Morgen bringen sie Tee und Süßigkeiten und übergeben ihnen die Geschenke. Danach gehen alle zu Ulam´s Statue und sitzen dort lange Zeit still und in erwartender Ruhe, aufmerksam lauschen sie auf alles, was in der Welt geschieht. Ich bin traurig, daß wir in Rohan so etwas nicht kennen – wie einheitlich sind die Ghân doch durch diese Art, immer wieder im eigenen Volk zur Welt zu kommen.



Ich frage nach dem STERBEN. Nun gibt mir eine alte Frau Bescheid, sie mag nicht mehr weit entfernt sein vom Tod.

Wenn jemand stirbt, nennen wir es „eine Seele ausladen“ – das Fest ist dann ähnlich –
sagt sie in ihrer alten Stimme.

Wir sind bei dem Sterbenden und feiern das Sterben, eigentlich soll ich sagen: das Weitergehen. Wir verlassen diesen Körper und gehen woanders hin weiter.

Da gibt es bestimmte Leute bei uns, die begleiten die Seele noch eine Weile, ein paar Tage, helfen ihr, immer bewußt zu bleiben und den Weg aus dem Körper hinaus zu finden und weiter, wohin sie will – oder richtiger: wohin sie zu Lebzeiten wollte, worauf sie sich vorbereitet hat. Wir nennen den Begleiter „Lamb´n“, das bedeutet so viel wie Begleiter durch alle Leben und Tode, Begleiter in den Zeiten zwischen den Leben.

Die Seele hat ja kein Gehirn mehr, hat keinen Körper mehr zur Verfügung, sie kann nun also nicht denken und so, sie kann sich auch nichts merken wie man das im Leben kann. Eigentlich weiß ich auch nicht, was dann ist, wie sie mit dem umgeht, was ist. Aber es ist einfach unsere Art, so mit der ganzen Sache zu leben.

Dann kommt der Augenblick, wenn die Seele den Körper verlässt. Das Gesicht wird hell, und alle singen leise ein schönes Lied, zum Abschied, und wir weinen ein bißchen. Der Tote liegt noch ein paar Tage auf seinem Sterbelager, und während dieser Zeit ist der Lamb´n noch dabei und hilft weiter.

Wenn die Seele den Körper ganz verlassen hat – der Lamb´n weiß das und gibt ein Zeichen, das dauert ein paar Tage –, dann wird der verlassene Körper auf einen Hügel in der Nähe getragen und dort vergraben. Ein Stein wird als Zeichen hingelegt, damit diese Stelle nicht so schnell wieder aufgegraben wird, doch sonst kümmern wir uns um die Stelle nicht mehr. Nur in den ersten Tagen nach dem Tod gehen besonders Berührte zur Grabstelle und sitzen dort eine Weile oder tanzen oder singen.

Wer noch weiter Kontakt mit der Seele behalten will, legt sich ein Zeichen in die Hütte oder an eine andere Stelle, dieses Zeichen ist für die weggegangene Seele, und wir sprechen dann noch mit ihr.

Uns in Rohan und Gondor interessiert das alles nicht, so lange wir im Leben drin stehen. Und was dann beim Sterben geschieht ... Das Sterben und die Sterbenden schieben wir weit weg, am liebsten in diese kleinen Dörfer vor der Stadt, in denen die Sterbenden noch ein wenig ”aus dem Fenster sehen können”, wie wir sagen. Deswegen war ich so hilflos, als während des Krieges so viele um mich herum starben, schreiend und voller Schmerzen und ohne Wissen, was nun kommt, und voller Angst. Das passte nicht in mein Bild vom Sterben. Deswegen bin ich nun begierig zu hören, wie die Ghân ”Leben und Sterben” erleben und damit umgehen und feiern – es scheint, als wenn ihnen das viel leichter fällt als uns. Doch Kriege kennen sie nicht und haben im Sterben auf dem Schlachtfeld keine Erfahrung.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich mich auf das Sterben und die Zeit danach vorbereiten könnte – obwohl ich mich danach sehne, es zu erfahren. Und: was heißt das, ”sich vorbereiten”? frage ich also.

Das ganze Leben bereiten wir uns vor – nicht so sehr auf das Sterben sondern auf das ”Leben und Sterben” wie wir sagen – denn Leben und Sterben gehören nun mal zusammen – oder besser ”hier im Leben sein” und ”auf der anderen Seite sein”.

Was macht ihr da?

Weißt du, beim Sterben und in den Zeiten zwischen den Leben begegnen einem allerlei Geister und Gestalten und Erinnerungen und so weiter – wenn man stirbt. Und da ist es gut, wenn man das schon vorher weiß und keine Angst hat. Dann nehmen wir uns vor, für alles, was uns begegnet, selbst die Verantwortung zu tragen, kurz gesagt, – denn schließlich passiert das alles ja nur IN MEINEM Geist, und nach dem Sterben nur noch IN MEINER Seele; nichts und niemand sonst hat die Verantwortung. Und wenn schon – es bringt nichts, andere zu beschuldigen – ich muß da ganz allein durch. Ja, solche Sachen lernen wir, das gehört zu unserer Lebenserfahrung sozusagen.

An Freunden sehe ich, daß das Sterben ein sehr starkes und sehr dichtes Geschehen ist. Denn wichtige Erlebnisse deines Lebens, die sich tief eingegraben haben in deiner Erinnerung, treten nun noch mal nach vorne und zeigen sich dir – besonders die peinlichen, tragischen und schmerzhaften Erlebnisse haben ja Spuren hinterlassen, und diese Spuren erscheinen dir nun. Das sind die Spuren, die als ERINNERUNG den Tod überdauern und später wieder in ein neues Leben eintreten können und dort dann Einfluß ausüben.

Es ist gut, wenn du diesen Spuren beim Sterben begegnen und selbst die Verantwortung für ihr Entstehen übernehmen kannst. Das macht sie wirkungslos, und du hast dich ihrer entledigt.

Aber es ist doch oft so, daß jemand anderes die Schuld hat für mein Leiden, dann kann doch nicht ICH die Schuld übernehmen!

... nein das ist nicht eine Frage der Schuld. Die mag so liegen wie du sagst. Aber das hilft nichts: das Leiden IST IN DIR, und nur du kannst die Verantwortung übernehmen, nur du kannst was tun in deiner Seele.

Doch das muß man lernen und über das ganze Leben immer wieder bedenken.

Wie lernt ihr das? Gibt es da eine Art Sterbe-Schule?

Nein – sie lacht fröhlich über meine Idee. So wie wir uns oft Geschichten erzählen, erzählen wir uns von dem, was während des Sterbens und danach so vorgeht – es gibt da Leute, die das besonders gut können, die Lamb´n. Sie erzählen für jeden Tag während des Sterbens und für die Zeiten zwischen den Leben, was man da sieht, hört, fühlt, ja erlebt, und wir lernen das einfach und behalten es – schon im ganzen Leben lernen wir das.


Behaltet ihr so was?

Ja, denn nach dem Sterben ist die Erinnerung zehn mal so klar wie im Leben. Im Leben sind wir mit so vielen anderen Dingen beschäftigt ... Und nun ist die Sache des Sterbens das Einzige, der Rest ist nun bedeutungslos.

Und dann, wenn die Seele den Körper endgültig verläßt und der Körper zu leben aufhört, das Herz stillsteht, sitzt ein Lamb´n dabei und begleitet das Sterben und den Weg der Seele aus dem Körper hinaus, aus dem Bewußtsein hinaus, und hilft dem Sterbenden zu erkennen, was ihm gerade vor die Sinne kommt – oh, da können häßliche Geister kommen, schreckliche Laute und Gefühle, Angst vielleicht, oder auch Freude ... und wer Glück hat oder im Leben sich schon vorbereitet hat, für den ist der Tod die große Loslösung, und das ist Seligkeit – so habe ich das gehört. Es gibt Leute, die den Tod schon mal ein Stück gesehen haben und wieder aufgewacht sind – die haben berichtet, daher wissen wir ... und es gibt Leute, die sich an den Tod eines früheren Lebens erinnern können ...

Ein anderes Mal frage ich einen Einsiedler, der alt und voller Erfahrungen ist: Weißt du wie es innen aussieht, wenn man stirbt? Welche Eindrücke kommen dann? Er sagt:

Ich versuche das mal zu erzählen, doch bei jedem Menschen ist das anders, und es gibt verschiedene Arten, das zu sehen. Ich spreche nur über den Tod, wenn er zu einem Sterbenden kommt, der in Ruhe liegt und ihn erwartet. Dann könnte der Lamb´n etwa die folgenden Sätze sagen, immer wieder über eine lange Zeit von einem Tag oder länger ausgedehnt:

– du läßt dich los, immer mehr, läßt dich ganz in den Untergrund los, lässt deinen Körper ganz tief in den Untergrund sinken, da ist er bald zuhause

– du spürst einen großen Druck, es drückt dich in die Erde hinab, dein Körper wird immer schwerer und versinkt in der Erde, da ist er bald zuhause

– die Erde löst sich auf, nur Wasser spürst du noch

– das Wasser löst sich auf, Feuer ist da

– das Feuer löst sich auf in Luft, fast in nichts

– nun zerfällt der Körper in viele, viele kleine Einzelteile

– zerfällt, löst sich auf und verschwindet vollständig und endgültig

– und von der Luft bleibt schließlich nur noch Licht

– klares Licht


– es ist tiefer Friede, du bist allein und alles ist gut, vollständig gut

Nun bist du nicht mehr in der Zeit und im Raum, da ist nichts mehr, an dem du dich festhältst.

Doch es können noch viele Dinge geschehen, denen du begegnest: viele Lichter und Geräusche und Geschehnisse, eigenartige Lebewesen, Freuden und Bedrohungen. Je nachdem, wie es in deiner Seele aussieht, wie ruhig oder unruhig sie ist; ja, je nachdem, wie ruhig oder unruhig sie ist; je nachdem, in welcher Weise dein Leben deine Seele geformt hat; je nachdem wird es nun schön, oder so là là, oder es wird häßlich und es scheint gefährlich zu werden. Du siehst, warum wir Ghân das gute Leben führen: damit das Sterben nicht qualvoll wird, sondern schön und ein Segen.

– nein nicht nur damit das Sterben schön wird, bemerke ich, sondern auch für das Leben hier und jetzt. Das ist doch wichtiger, denn das Leben dauert lange und das Sterben nur ganz kurz. Doch sie kennen nicht so etwas wie Zeit-Abschnitte, haben auch kaum Zeit-Maße, zeitlich leben sie eher wie im Nebel, man weiß nicht, wo die Grenzen sind. Also geht es sie gar nicht um das Sterben sondern um die Zeit – oder wie soll ich sagen – vor beziehungsweise nach dem Leben. Ich frage, wie es mit der Zeit steht, hat „der“ Sterbende „etwa“ noch ein Gefühl für Zeit, und wie ist es im Tod?

Das Sterben ist ja etwas sehr langes. Für die dabei sitzenden Lebenden sieht es kurz aus, ein halber Tag oder so. Aber je tiefer du selbst in den Tod hinein sinkst, desto länger wird die Zeit, schließlich löst sich die Zeit auf und alles ist in der Ewigkeit – alles IST, sonst nichts, kein Werden oder Vergehen mehr, keine Änderung, alles IST. Anders kann ich es dir nicht sagen, doch es sind nur ungeschickte Menschenworte.

Was ist das eigentlich, wenn du von LICHT sprichst? Von KLAREM LICHT?

Das ist nur ein Bild. Da der Tote keine Sinne mehr hat, kann er auch kein Licht sehen wie wir hier. Doch es ergibt denselben Eindruck. Kennst du das nicht: für die Augen ist es tief in einer Höhle vollständig dunkel, dennoch ist da ein leichter Schein, nicht klar, nur so ungefähr. So ähnlich ist es wohl, was die Lamb´n meinen, nur stärker – denn wenn du tot bist, stören dich die Eindrücke der Augen nicht mehr, ja nicht einmal die Erinnerung daran. Auch das Wort Licht hast du nicht einmal, denn der Tote ist ja tot, es ist eben nur ein Bild, damit das, was die tote Seele empfindet, für dich hier im Leben verstehbar wird.

Wenn der Tod nun sehr schnell kommt – uns kann das ja im Krieg leicht passieren – oder wenn einem ein umstürzender Baum auf den Leib fällt, im Sturm – was dann, wie könnt ihr „richtig“ sterben, wie kann ein Lamb´n so schnell kommen? Was macht ihr dann?

– ach, wir versuchen, den Sterbenden langsam und in Ruhe sterben zu lassen, mit hellem Geist, ganz klar und bewußt. Wir sind ganz klar bei ihm. Wenn es nicht gelingt, hoffen wir, daß das Sterben nicht so schwer ist – schließlich haben wir es ja alle gelernt

–, und wir hoffen auch, daß der Tote sich ein neues Leben aussucht, in dem er die Dinge nachholen kann, die ihm im vorigen Leben nicht gelungen sind, zum Beispiel richtig sterben ...

was heißt das: „voriges Leben“? unterbreche ich.

Einige von uns können sich erinnern, wie das früher war, in einem vorigen Leben, und haben uns davon berichtet. Besonders kleine Kinder erzählen da noch vieles, ihr Gedächtnis ist noch nicht so beladen mit Erlebnissen aus diesem Leben ...

– ich werde ungeduldig: eh, was IST das denn nun, frage ich erschreckt und belustigt und noch immer verwirrt: ein „voriges Leben“? Das gibt´s doch nicht, man lebt nur einmal und damit Schluß.

Na ja, manche sehen das so, andere anders. Die meisten hier sehen das so, daß wir alle schon immer da waren und wieder da sein werden. Es gibt sogar Leute, die sich erinnern, wie sie schon einmal gelebt haben, dann starben und nun wieder auf der Erde sind und wiederum leben.

Was ist denn DAS nun: „schon immer da waren“? Und was war davor? frage ich.

Ach, man kann auch Dinge fragen, auf die es keine Antwort geben kann, und damit versäumst du das Hinsehen auf das, was tatsächlich ist, sagt Mûr, und: du willst für alles eine klare Antwort haben, doch damit bleibst du stecken beim Denken und Wissen, doch das wirkliche Sein ist viel mehr, da ist unser kleiner Kopf einfach zu klein.

Mir scheint, ich verliere mich da in eine ganz andere, für mich ganz neue und unfassbare Philosophie, verliere mich und weiß keinen Weg mehr hinaus. Mûr fragt, was ist denn „eine Philosophie“? Ich erkläre ihm, daß man die Dinge des Lebens so oder so oder noch anders sehen und darüber nachdenken kann – doch für Mûr gilt nur, wie es IST – und das reicht. Was hätte denn das für einen Sinn, die Dinge so oder so zu sehen und darüber nach zu denken? Da wüßte er schönere Spiele.

Er sagt dann: ich glaube, mit eurer Philosophie geht ihr weg vom Leben, weg von dem Ganzen, was ist. Ihr erfindet Wörter für etwas, was nicht ist, sondern was ihr erfindet – ein schönes und riesig großes Spiel, vielleicht auch spannend, aber was bringt das? Man reibt sich damit auf und hat keine Kraft mehr zu leben und sich um die Nahrung zu kümmern – na ja, ihr braucht ja nicht so viel zu arbeiten, weil das Klima bei euch den Kohl schneller wachsen läßt. Solche Spiele sind für Leute, die alles haben.

Wir hier im Ghân-Land erleben recht viel von dem, was IST, und damit genug. Und mit eurer „Philosophie“ erlebt ihr lediglich kleine Teile eures Lebens, das was ihr denkt, mehr nicht. Sogar vor dem, was die eigene Seele erlebt und sagt, und wie sie manchmal Schmerzen oder Freuden hat, versperrt ihr euren Blick. Nur denkt ihr und redet immer und versäumt damit, euch selbst anzusehen und – zu lieben! Die arme Seele muß im Dunklen leben, ganz für sich allein – muß sie da nicht traurig werden?

Ich merke, wie mich das trifft, was er sagt. Es ist schwer, sich davon zu lösen ...

Warum tut ihr in Rohan das? Ich glaube, das hat was damit zu tun, daß ihr euch selbst rechtfertigen wollt. „Wer bin ich?“, fragt sich das nicht jeder Mensch? Und ihr glaubt, ihr wißt die Antwort, wenn ihr sagt, ich heiße so und so und bin Reitersoldat beim König und war im Krieg tapfer oder auch nicht und kann Pferde erziehen. Das ist doch alles Wörter-Kram, das bist nicht wirklich du!

Und wer bin ich? frage ich, und wie erfahre ich das? Mûr sagt,
geh zur Statue Ulam´s, sitze da lange. Dann kommt langsam, langsam die Antwort – aber ICH kann sie dir nicht sagen, denn die Antwort ist nur in dir.

Ich verstehe nicht einmal, was und wie ich fragen soll, damit eine Antwort kommen könnte. Mûr springt hoch und schreit mich an:
auch DAS ist doch Wörter-Kram. Sitze einfach da und laß alles Fragen einfach los: sieh einfach hin, was IST und geschieht, und laß es sein und geschehen.

Ich frage, und wie ist das dann beim Sterben? Hat das damit was zu tun? Er schüttelt den Kopf – ist er nun verzweifelt mit mir? – und grummelt,
du wirst merken, es gibt niemanden mehr, der stirbt.

Oh Schock, was meint er nun? Das passt gar nicht in das, was ich heute schon gehört hatte. Das verwirrt mich immer mehr.

... ja so ist das bei den Ghân, wir haben KEINE FESTEN LEHRMEINUNGEN, sondern wir berichten dir einfach, was wir gerade sehen – mal dies, mal das.

Also: es gibt niemanden mehr, der stirbt – oder anders gesagt: es ist recht zu sterben, dieses Leben zu verlassen, weil die Zeit dafür reif ist. Und wenn wir der Seele von dem Sterbenden noch helfen, den Weg zu finden, ist das nur, damit sie den Weg nicht verfehlt, denn es könnte ja sein, daß sie im Leben nicht alles gelernt hat, was nun – in den Zeiten zwischen den Leben – nötig ist.

Doch – Menschen, die alles gelernt haben, brauchen die Hilfe der Lamb´n nicht. Das merken die Lamb´n dann schnell – solch ein Sterbender hat eine sehr ruhige und zufriedene Ausstrahlung und lässt sich einfach los, lässt das Leben einfach los, und die Lamb´n sitzen nur ehrfürchtig da und staunen. Wer dabei ist, gewinnt sehr viel, wenn so jemand fortgeht: Kraft, Zufriedenheit ...
Sie sterben bewußt, mit offenem Geist! Sage mir bitte mehr dazu.

Wir sagen, bewußt zu sterben bereitet uns vor für ein reiches Leben danach, im nächsten Leben – doch auch für das nun hinter uns liegende Leben, denn das hinter uns liegende Leben war ja schon angefüllt mit den Lehren über Leben und Sterben und war dadurch sehr bewußt und klar! Wenn wir bewußt sind, ist auch der Unterschied zwischen Leben und Tod klein. Wir nehmen das alles nicht so ernst.

Lange, lange denke ich über diese Dinge nach. Heute weiß ich, daß ich viel zu lange darüber nachgedacht habe, denn das DENKEN hat mir das Erkennen nicht gebracht. Denken hat nur das Wissen gebracht, wie sie es meinen, doch nicht, wie es IST. Aber einige Wochen später ein anderes Gespräch:

Ihr merkt, ich bin sehr verwirrt, ich denke mal wieder nach und frage ein paar Leute, mit denen ich eines nachts zusammen in meiner Hütte am Feuer sitze:
... wenn ich nun sterbe, und ich sterbe bewußt, wie ihr es sagt, dann – so höre ich immer wieder von euch – dann werde ich später wiedergeboren und das, was in diesem Leben war, spiegelt ins nächste Leben hinein und beeinflußt dieses neue Leben, es ist wie eine Art Gedächtnis, das im nächsten Leben wieder lebendig wird – auch wenn wir es nicht merken. Dazu brauche ich aber doch ein Gehirn, einen Körper oder wenigstens so etwas wie ein Buch, in dem alles steht, was sich im vorigen Leben angesammelt hat, – aber das alles ist doch gar nicht da in dieser Zwischenzeit, ist tot und verwest und nicht mehr brauchbar.

Dieses Gedächtnis ist wie mit Wasser, das ich wegtragen will: ich brauche doch den Eimer – das Gehirn – dazu, denn wenn der Eimer plötzlich weg ist, läuft das Wasser aus und ich kann es nicht mehr tragen; oder wenn ich eine Geschichte oder einen Kriegsbericht in der Bücherei aufbewahren will, brauche ich Papier und geschriebene Buchstaben und Sätze ...


? BBBRRRRATTT!
– schreit es da, ich schrecke hoch, meine schönen Gedanken sind zerfetzt ...
Laß doch das Denken sein!
Denken ist Dummheit –

So meinen die das hier. Dennoch höre ich in dieser Nacht noch einiges:

Nein, von Gedächtnis sollten wir hierbei nicht mehr sprechen, da hast du recht, auch nicht von Seele. Wir sagen zwar manchmal, um es besser erklären zu können, die SEELE wandert von einem Leben zum nächsten und nimmt ihr altes GEDÄCHTNIS mit sich. Doch das ist ein Wort, damit wir überhaupt was zu sagen haben. Ob es stimmt, wissen wir nicht, und ich glaube es auch nicht so, höchstens, daß es vielleicht sein KÖNNTE.

Ich WEISS nichts von der Seele, wie sie vor meiner Geburt war, und ob es sie gab. Ich kann das denken und sehen, aber ich WEISS es nicht. Ich weiß auch nichts von einem Gedächtnis, das Erinnerungen von früher mit herüber schleppt. Was ich aber leicht sehen kann und weiß – auch bei anderen – ist, daß irgend etwas in dem neuen Leben erscheint, was nicht nur der Körper ist: ein ganz eigener Charakter und auch ein ganz eigenes Schicksal scheinen durch, und die werden schon in den ersten Lebenswochen eines Neugeborenen für die Umstehenden sichtbar – für ihn selbst aber erst, wenn er 12 Jahre oder länger Lebenserfahrung hat.

Ich habe ja neulich in einem kleinen Dorf nahe dem Gebirge „den Mann aus der Ewigkeit“ (Heft 29, Buch 7) erlebt, der sich DOCH erinnert, das sei aber nicht angenehm, meint er. Ich wiederhole hier mal ein paar seiner Sätze: Ich liebe es, ihm zuzuhören, sein Gesicht ist so schön, seine Bewegungen einfach und klar. Ich frage ihn nach seinem Gedächtnis über andere Leben, und er sagt:

Ja, es ist eigenartig, MEIN Gedächtnis ist so offen für Erlebnisse aus vorigen Leben, mir scheint, auch aus späteren Leben. Doch es scheint, ich bin eine große Ausnahme, selten ... Ich sehe in andere Leben, die ich mal lebte – oder leben werde, vielleicht.

Ich kann nämlich ungefähr sehen, in welcher fernen Zeit ich das gerade erlebe. Ich muß „sehr“ sorgfältig mit mir umgehen, damit ich mich nicht verwirre und in den Zeiten verirre und verliere. Da brauche ich viel, viel Stille und Alleinsein. Oft weiß ich nicht, in welcher Zeit ich gerade bin, es scheint, als ob ich in der Zeit auf- und abwandere. Um im Hier und Jetzt zu bleiben, muß ich immer scharf aufpassen und lange Zeiten innerer und äußerer Stille haben, muß einfach da sitzen und ganz still sein, brauche viel Zeit dafür.

Wenn ich mich mal verliere, gibt es doch schnell einen Weg wieder ins Hier und Jetzt: ich muß nur auf eine Art kleines Männchen tief in mir hören. Das Männchen ist mein ICH in diesem Leben – in den anderen Leben sehe ich so ein Männchen nie –, und das weist mir den Weg, den geraden Weg zum Hier und Jetzt, den klaren Weg. Dann ist sein Wink wie ein dünnes Rinnsal mit klarem Wasser in meiner Seele, das ich immer beobachte und von dem ich nie abweiche. Dieses Männchen, das bin ICH, das ist meine tiefste Erfahrung des ICH.

FRAGT mich NIE nach etwas aus den anderen Zeiten und Räumen, denn das würde mich verwirren. Hört einfach zu, was ich in eigener Verantwortung berichte. Wenn ich irgendwann mal ganz still werde, laßt mich und seid auch still, ich gehe dann das Rinnsal entlang um meinen Weg wieder zu finden, den ich auch bald finde. Dann könnt ihr wieder zu mir kommen.

Wenn ich so erzähle aus anderen Zeiten oder von anderen Orten, bin ich nie in Trançe, bin so klar wie immer. Ihr seht auch, ich darf mich nicht zu viel um andere Zeiten oder Orte kümmern, sonst wird es schwierig. Ich gehe mit dem Geist da überall spazieren, und mein kleines Männchen passt auf.

So erfahre ich das in diesem Leben. Doch wo war meine Seele oder das Männchen oder etwas anderes vor diesem Leben, bevor dieser Körper geboren wurde? Ich scheue mich, dazu was zu sagen, denn vielleicht würde mich das sehr verwirren. Ich will da nicht hineingehen. Ich will das mal in großer Stille und wenn ich ganz allein bin sorgfältig ansehen und werde euch dann berichten.


Heft 32. DIE PILGERFAHRT – ULAM SUCHEN, ULAM VEREHREN – Ergänzung: – SICH SELBST SUCHEN, SICH SELBST VEREHREN – UND DIE GÖTTER?

Es gibt besondere Pilgerwege durch das ganze Ghân-Land, in langgezogenem Kreis oder in mehreren Kreisen, auf und ab, mal leichte Stellen und mal Wegstrecken, die über Felsen und Steine gehen, durch Sumpf und Gestrüpp. Und ich brauche viele Tage um so einen ganzen Weg einmal rund zu wandern – in der Art der Pilger: Schnell wandern die Ghân selten, aber was sie auf diesem Weg machen, hat mich sehr erstaunt: mit jedem Schritt werfen sie sich auf den Boden, fangen sich mit den Händen auf und drücken ihre Stirn auf den Boden – in tiefer Verehrung und voller Dank für Ulam.

Am Anfang hatte ich den Gedanken: man kann einen Menschen doch nicht so tief verehren, wie die das hier machen. Das ist ja wie Hinterherlaufen, wie Götzendienst, die Ghân verlieren ja doch ihre Freiheit und persönliche Würde, machen sich unfrei, werden zu Sklaven ihres selbsternannten Meisters, dieses Ulam. Da sind mir unsere Götter doch lieber, von ihnen haben wir unsere Moral und den Glauben bekommen und die Große Schrift und haben was Festes in der Hand – aber die hier? Unsere Götter sind so weit weg, daß wir immer Mensch bleiben – und sie bleiben die Götter, da ist der Unterschied doch immer klar. Wer mit einem Gott in Verbindung treten will, muß schon genau nachdenken und die Bücher richtig lesen, muß den Wortlaut der Gebete ohne Fehler sagen können – sonst rührt der Gott sich nicht.

Die Ghân aber haben das alles nicht. Sie sind viel mehr als die Rohirrim für sich selbst verantwortlich, da müssen sie doch immer wieder ins Schwimmen geraten, den Boden unter den Füßen verlieren, so wie der „Mann aus der Ewigkeit“ – denke ich.

Doch schon nach einigen Wochen meines Lebens bei den Ghân verstehe ich ein wenig, daß die Lebensart der Ghân mindestens ebenso schön ist wie unsere – und nach einem Jahr bei ihnen ziehe ich ihre Lebensart vor, liebe sie und lebe nach ihr, mir bedeutet ihr Meister heute sehr viel und ich habe unsere Götter fast vergessen. Ich lebe gerade wieder in Edoras, wie ich dieses zusammenschreibe, doch wahrscheinlich werde ich zu den Ghân zurückgehen und dort für immer bleiben. Wir in Rohan haben da unsere Götter – aber keiner bei uns verehrt einen Gott so tief – und der Meister der Ghân ist nicht einmal ein Gott, er ist nur ein Mensch, allerdings einer, der eine sehr tiefe Erfahrung gemacht hat und davon abgibt. Er kann davon abgeben, weil er auch Mensch ist und menschliche Sprache spricht und menschliche Empfindungen kennt – das kann man von unseren Göttern nicht sagen.

Unsere Pilger-Wanderung ist schwer, Hände und Stirn und Knie sind verletzt und blutig – und dennoch sind die Leute dabei so fröhlich und leicht, lachen und erzählen sich selbst Witze, zeigen voller Spaß auf ihre blutigen Knie und Hände. Oft wickeln sie allerdings Lappen darum, um es leichter zu haben. Und wir essen fast nichts – denn dann sind die Sinne schärfer und wir haben wahre Blicke in das, was in der Tiefe ist. Und nun verstehe ich, woher die Warze auf der Stirn bei vielen alten Leuten kommt. Wenn ich diese Pilgerfahrt oft mitmache, wird mir die Warze auch wachsen durch das andauernde Berühren des rauhen Bodens.

Auch ganz junge Ghân machen diese Wanderung mit, ihre Stirn ist noch ganz glatt, wie ihr Gesicht, doch ist die Haut in der Mitte der Stirn manchmal aufgeschabt und blutig. Ich frage mal nach dem Sinn der Pilgerfahrt – aber die Antwort ist nur,
wir machen das eben so und es geht uns wohl dabei – wenn wir nicht mögen, tun wir's nicht. Wir verehren unseren Meister damit, wissen aber nicht einmal ob es ihm gefallen würde, wenn er hier wäre. Wenn ich diese Wanderung mache, ist es nur für mich. ICH verehre ja, es ist für MICH.

Meine erste Pilgerfahrt mache ich in der Vollmondzeit.

Knie- und Händeschützer sind unsere Ausrüstung. Ich habe alles in meiner Hütte geordnet – doch was gäbe es da schon zu ordnen? Es ist fast nichts in der Hütte außer Schlafpritsche, meinem Bild von Ulam und ein paar Kleider, die Feuerstelle in der Mitte, ein paar Gefäße, etwas Schreibzeug – wir gehen zu Ulam´s Statue und sitzen da eine lange Zeit in Erwartung der nächsten Tage. Es wird sehr still, ich höre mein Blut rauschen und merke, wie meine Sinne, ja mein Körper immer langsamer und aufmerksamer werden. Wir sehen einander an, wie schön sind die hier doch! Meine Augen werden feucht, sie werden oft feucht seit ich bei die Ghân lebe. Ein paar Tränen fließen, und ich bin so glücklich.

Um die Mittagszeit gehen wir los. Niemand nimmt Abschied, obwohl es so etwas Besonderes ist – doch für die Ghân ist eine Pilgerreise nicht so besonders. Gleich hinter dem Dorf beginnen wir mit der Anrufung: im Stehen legen wir die Hände aneinander und sprechen leise etwa das folgende:

Ich werfe mich zu Füßen Ulam´s
Ich werfe mich zu Füßen aller Verehrer Ulam´s
Ich werfe mich zu Füßen des
guten Lebens, wie Ulam es uns gezeigt hat

Dann werfen wir uns glatt bäuchlings auf den Boden und liegen eine kurze Weile – die aneinander gelegten Hände vor dem Kopf, die Stirn auf dem Boden. Und wieder sprechen wir solche Sätze wie vorher das nächste Mal:

Ich werfe mich zu Füßen Ulam´s
Ich werfe mich zu Füßen der Gemeinschaft von Ulam´s Schülern

Ich werfe mich zu Füßen der stillen Blicke in mein Inneres, wie Ulam es uns gezeigt hat

Nach dem Aufstehen sehen wir uns um und bestaunen die Schönheit des Lebens und dieses Landes, streichen mit den Händen am Körper entlang und genießen seine Schönheit. Am Abend sind wir noch in Sichtweite des Dorfes, ich bin müde, es wird ein Feuer gemacht, an dem wir uns Tee bereiten und still genießen. In der Dunkelheit hören wir nur wenige Nachttiere mit ihren Flügeln rascheln oder mit ihren Füßen am Boden entlang kratzen. Ein Helfer mit einem Schaf hat unser Gepäck getragen, Decken, weitere Hemden und Geschirr mit Tee – wir essen ja nichts an diesen Tagen und Nächten.

Zweimal in der Nacht wachen wir auf – alle ziemlich gleichzeitig, weil wir es uns vorgenommen haben – einmal bevor und einmal nachdem der volle Mond am höchsten steht. Dann sitzen wir, summen zusammen zu einem kleinen leisen Gong und sprechen ein paar Mal Sätze der Verehrung und des eigenen Loslassens:

Geliebter Ulam, du zeigst mir mein inneres Licht
Geliebter Ulam, in dich hinein, in deinen Körper und in deine Seele lasse ich mich los
Geliebter Ulam, deine Seele legt sich über mich und ich kann mich ganz loslassen

– und grüßen den Mond. Ein blasser Elf schwebt aus dem Mond heraus und auf mich zu. Ein Schleier umwebt seinen Körper, und er wird immer größer und fliegt um mich umher, und sein Schleier umschwebt nun auch mich. Dann zieht er sich in den Mond zurück. Die anderen haben nichts gesehen.

So wie wir den Sonnenuntergang grüßen, verehren wir auch ihren Aufgang. Die Sonne gibt uns alles an Nahrung und Wärme und Licht, was wir brauchen. So und ähnlich leben wir mehrere Tage. Wir kreuzen die gewöhnlichen Wege und begegnen anderen Ghân, die uns mit besonderer Verehrung begrüßen – denn für sie sind wir in diesem Augenblick wie Heilige, die sich nahe an Ulam aufhalten. Und wir grüßen verehrend Bäume, Quellen, Tiere, Berge, den Mond ... – so wie es uns in den Sinn kommt.

Obwohl wir nichts essen, machen wir auch mittags ein Feuer – wir verehren es und geben ihm duftende Kräuter. Diese Pilgerfahrt ist gleichzeitig unser Weg nach innen und nach außen: wir sind Eins mit Allem und gehen sorgsam mit Allem um. Nun müßt ihr nicht denken, daß wir in fest gefahrenen Ritualen stecken – das kennen die Ghân nicht, auch wenn mein Text das nahelegen sollte. Ich schreibe meine Erlebnisse in einfacher Form nieder, doch die Ghân sind immer frei, ihren Lebensstil zu verändern, mir ist das sogar zu viel und verwirrend und schwer in einer Geschichte zu beschreiben. Auch solche Pilgerfahrten ändern sich immer wieder, selbst während einer Fahrt. Sie haben Lust an den Veränderungen und empfinden das als einen Teil ihres Lebens und LOSLASSENS.

Ich möchte mal ein paar Leute über ihren Meister Ulam befragen – aber man sagt, daß wir ein größeres Treffen dafür machen wollen, viele Leute kommen dann zusammen, und ich höre und kann fragen,

– oder: vielleicht gibt es dann nichts mehr zu fragen,
sagt jemand lächelnd. Da gäbe es eine alte Geschichte über den Meister: jemand kam zu ihm und wollte alles genau wissen ... Ulam schwieg und ließ ihn ein Jahr warten und mit ihm umherziehen, dann ... Als das Jahr herum war, wollte der Mann nichts mehr wissen, das Fragen war nicht mehr nötig, die Antworten hatten sich ergeben. Oder noch richtiger: es gab keine Fragen mehr.

Doch, einmal treffen wir eine alte Frau, die sich eine Steinhütte unter einem breiten Baum gebaut hat. Sie sitzt unter dem Baum und sieht uns mit großen Augen an. Eine Art Mahnung will sie uns mit auf den Weg geben:
... und denke immer daran: du bist Ulam.

Das erschreckt mich: wieso ICH?

Sieh tief, tief in dich hinein, und wenn es nicht mehr tiefer geht, dort bist DU Ulam. Dort bist du, in ganzer Klarheit, ganz rein, von dort siehst du und hörst du und riechst ... du alles.

Das nimmt ja alle Größe von Ulam!

Ja. Ulam ist doch nicht groß! Ulam ist jeder. Jeder ist Ulam. Das ist die Lehre dieses Menschen, den wir Ulam nennen.

Und wen verehren wir eigentlich?
Das kommt auf dich an – vielleicht Ulam, den verehrten Meister, vielleicht Ulam in dir – ich weiß es doch nicht. DU triffst die Entscheidung, wen du verehrst.

Die Frau wird still, lächelt und legt sich hin, um im Sonnenschein zu schlafen. Wir gehen weiter.

Manchmal singen wir bei dieser Pilgerreise oder murmeln immer wieder WER BIN ICH? oder ICH VEREHRE DEINE SCHÖNHEIT oder anderes, was hilft. Manche pilgern Tag und Nacht, und das wird sehr anstrengend. Manchmal braucht man solche Anstrengungen um so müde zu werden, daß es schwer wird, immer wieder zu denken – dann kann die Stille endlich kommen. Wieso Stille, frage ich, ist es denn nicht der Meister, für den wir pilgern?

Hast du es immer noch nicht bemerkt? Nur wenn du ganz still bist, wenn deine Gedanken ..., dann kannst du dich ganz hingeben. Und deswegen ist es gut, sich wirklich ganz anzustrengen und nicht nur so ein wenig amüsanten Sport zu betreiben.

– doch wenn sie von Anstrengung reden, meinen sie eben Hingabe, dann sprechen sie nicht von einem Kraftakt.

Diese Nacht ruhen wir an einem Teich mit stillem Bach – ein kleines Feuer, auf das wir unseren Blick richten, wenn die Augenlider halb geschlossen sind. Wir bauen uns eine rohe Hütte aus Zweigen und Halmen auf, die vor Regen und Tau schützt. Wir üben uns, alle und alles gelassen anzusehen, die Tiere und Pflanzen und Menschen und Geister, sie schlicht zu lieben ohne etwas von ihnen zu wollen, sie sind einfach da, und sie sind Teil unseres allumfassenden Mitgefühls, das für alles ist. Genauso blicken wir auf die schönen und fernen Weißen Berge, auf die Sterne, auf den Mond ...

Schlafen? Im Freien schlafen wir nicht so tief wie in der Hütte im Dorf. Wenn du im Freien schläfst, bist du meistens wacher, das Schlafen wird bewußter und heller – und besonders nach solchen Tagen des stillen Wach-Seins bist du auch während des Schlafes wacher, du schläfst überhaupt nicht mehr ganz tief, dein Schlaf wird bewußter. Wir essen nichts oder wenig, doch trinken wir viel Wasser. Die Tiere und Pflanzen sind uns nahe, es ist fast, als ob sie mit pilgern. Manchmal kommt ein Hund mit – er wirft sich aber nicht andauernd auf den Bauch und wird nie eine Schwiele bekommen.

In unserer Pilgergruppe sind ein paar, die schon sehr weite Pilgerfahrten gemacht haben: im Süden bis ans Meer, im Norden bis tief ins Nebelgebirge, ja nach Lórien ins Land der Elben. Das schöne Meer und das schöne Land Lórien! Ich kenne sie nicht, werde sie mal besuchen. Mich wundert, daß sie immer nur das Schöne aufsuchen um zu reifen – es gibt doch auch das Häßliche, das Böse und Boshafte, sage ich, gehört das denn nicht auch zur Lebenserfahrung? Ich glaube, ihr verschließt euren Sinn vor der Wirklichkeit, seht das Leben durch eine wunderschöne rosa Glasscheibe, so würde man bei uns sagen.

Sind eure Erfahrungen denn richtig? Das Leben besteht doch nicht nur aus dem Schönen! Ich bekomme zur Antwort:

Nein, das Leben besteht aus viel Schwerem und Häßlichem, aber in Zeiten, in denen wir reifer werden wollen, hilft es uns überhaupt nicht, uns immer wieder mit dem Schweren und Häßlichen abzugeben, das drückt dich, verwirrt deinen Kopf, macht Sorgen und Furcht, es ist wie eine Wunde in der Seele, die schmerzt und die Seele verschmutzt. Solche Erinnerung zieht sich dann durch´s ganze Leben – verschmutzt die Seele auf lange Zeit! Dann ist es unmöglich, zu wachsen, leicht zu werden, glücklich zu sein ...

Deswegen pilgern wir nur dorthin, wo es schön ist, denn nur dann können wir uns ein Stück tiefer finden und gesund bleiben. Das Häßliche und Schwere vermeiden wir, wenn es geht – es ist sowieso da und überfällt uns viel zu oft.

Auch wir in Rohan machen Pilgerfahrten, doch die sind sehr hart: Askese und Askese, wir schlagen unseren Körper mit einer Geißel selbst, leben dünn bekleidet und barfuß in der Hochgebirgskälte nahe dem Eis des Starkhorns, kämpfen gegeneinander bis aufs Blut, sitzen Tage lang still an häßlichen und unreinen Orten – heute frage ich mich, wozu? Denn die Schönheit fehlt ganz und gar, vielleicht soll das so sein. Ja, bei solchen Fahrten gehen wir ins Gebirge – um die Härte zu erlernen, um hart gegen uns selbst zu werden. Und das Ziel ist, harte Soldaten heranzubilden. Etwas ganz anderes als die Ghân wollen.

Sie sind erstaunt:
Doch Ulam sagte: wir sind geboren, um Glück und Schönheit zu genießen – das Unglückliche und das Unschöne muß man nicht noch aufsuchen, das lenkt nur ab.

Glück und Schönheit gibt´s umsonst, du mußt nur Ja dazu sagen. Doch Unglückliches und Unschönes mußt du erst zu dir heranziehen, mußt es erst erschaffen. Geh mal in die Wildnis – gibt es da Unglück und Häßliches, so wie in den Städten der Menschen?

Nur, wenn wir tief innen gesund und in unserer Schönheit sind, ist es leichter, auch das Häßliche zu ertragen. Wir Ghân härten uns nicht ab mit Häßlichem und Hartem, weil das nur unnötig Kraft kostet – unnötig sage ich, denn es wäre wirklich nicht nötig! Doch wir haben das Schöne immer in der Erinnerung, und diese Erinnerung holen wir immer hervor, wenn uns Häßliches oder Schweres belastet.

Am Rande des Pilgerweges stehen niedliche kleine Ulam-Statuen. Wenn wir bei einer Statue ankommen, bleiben wir still bei ihr sitzen, legen einen aufgesuchten Stein dahinter auf einen schon großen Haufen, einfach so, ohne Ziel, oder legen Ulam´s Statue eine Blume oder einen ganz besonderen Stein vor die zusammengelegten Hände. Oder wir tanzen vor der Statue – einen Tanz für Ulam. Es macht Spaß. Es macht überhaupt Spaß, so wach zu sein und die Welt mit so offenen Sinnen anzusehen und zu lieben.

Einmal begegnen wir einigen Ghân, die haben einen toten Hirsch bei sich, tragen ihn an einer Stange. Das verwundert mich sehr, denn es schien bisher, daß die Ghân so was nicht tun, wilde Tiere absichtlich töten. Wieder muß ich etwas lernen, und das auf dieser Pilgerwanderung:

Wir kennen das Tier schon lange, es kennt uns, wir sind Jäger. Und wenn es so weit ist, daß der Hirsch sterben muß, dann sagen wir´s ihm. Er antwortet uns, ja, es ist richtig, es ist so weit. Erst dann töten wir ihn – wir töten auch ein Stück von uns, denn der Hirsch und ich, wir sind ja eins, so wie ich eins bin mit der ganzen Welt. Ich töte da nicht etwas ganz anderes, sondern einen Teil von mir selbst. Und das schmerzt – wer verliert schon gerne etwas von sich selbst. Aber es muß sein: wir wollen den Hirsch essen. Wir machen ein Fest daraus, der Hirsch – nun ist sein Körper ja tot, aber nicht seine Seele, glauben wir – der Hirsch ist dabei und vielleicht ißt er ja mit. Auch für den Hirsch sind wir alle eins.

Und wenn ich der Hirsch verfolge und ihn schließlich töten will, dann werde ich zu einem Stück der Seele des Hirsches, ja ich verwandle mich in den Hirsch, werde eins mit ihm, erfahre innen alles, was er nun tun will und tut. So stehe ich an seinen Wegen, den Bogen oder Speer bereit, weiß so wie er selbst, was er nun tun wird – und kann meinen Schuß oder Wurf anbringen. Der Hirsch wird fallen, es gibt nichts anderes.

Du bist dann ein Stück von seiner Seele? Meinst du das so? Und wie kannst du dich dann sozusagen selbst erschießen?

Nein, so ist das nicht, ich verstehe ihn nur, weil wir zusammengehören, viel mehr als vorher, bevor diese Jagd beginnt. Ich versetze mich in ihn hinein, teile ihm auch etwas von mir mit, er hört mich ebenfalls. Ja es schmerzt, aber dennoch bleibe ich getrennt vom Hirsch und kann ihn deswegen töten.

Es gehört Übung dazu, wir lernen das von Menschen, die sich in die Gestalt eines anderen Wesens hineinverwandeln können, es also von innen erleben – es ist dann leicht. Dazu gehört, daß das andere Wesen mir angenehm ist und daß ich etwas über es kenne und verstehe. Das sind die Grundlagen. Es geht also nicht, wenn ich ihn hasse – dann müßte ich mich dem Opfer über den Weg des Hasses nähern, doch darüber weiß ich nichts weiter. Vielleicht macht ihr das im Krieg so – oder?

Kannst du denn auch bereit sein, dich töten und essen zu lassen, wenn die Zeit reif ist?

Ich glaube nicht – als Mensch bin ich ja anders als so ein Tier. Also, ganz richtig ist das wohl nicht, was ich sage, aber ich versteh´s nicht anders,
sagt der Jäger.

Ich frage, und wie ist das, wenn mal ein Tier einen Ghân fängt und aufißt? Ein Wolf etwa? Es passiert schon mal, daß ein großer Wolf einen Menschen fängt.

Eine Frau sagt,

Ich weiß nicht, wie mir dann wäre, immerhin tut es ja schrecklich weh, das ist gewiß. Doch weiter: auch ich muß das ja anerkennen, das Leben ist so. Und wenn dir dein Kind weggegessen wird? Oh, die Trauer wäre sehr groß, vielleicht Jahre lang, Trauer und Wut sind dann so, daß ich den Wolf auch töten würde oder sogar aus Rache quälen – aber was willst du hören? Ich kann dir nichts sagen, was ich nicht hier und jetzt erlebe.

Ja, sie töten auch ihre Schafe, um Fleisch und Fell zu gewinnen. Ulam soll wohl mal gesagt haben, iß nur ein Tier, wenn es nicht für dich getötet wurde. Doch das reicht den Ghân nicht, sie sagen, es ist hier in dieser Gegend schwer, nur von Pflanzen zu leben, da die Böden karg sind. Doch Tiere wie Hasen, Hirsche oder Felsböcke wandern viel umher und essen sich satt, wo die Ghân nicht leben können, im dichten Wald oder hoch oben im Gebirge. Und ohne Felle, Wolle und Leder kann niemand hier leben – oder ohne die besonders harten Knochen, Hörner und Hufe der Felsböcke, aus denen manches Werkzeug gemacht wird.

„Ulam soll wohl mal gesagt haben“ ... wieso richten sie sich nicht danach?

Wieso? Ulam ist doch nicht unser König oder so was. Er macht doch nicht unsere Gesetze oder unsere Moral! Nein, er hat alle Verantwortung den Menschen überlassen.

Auf unserer Pilgerreise begegnen wir Einsiedlern, die in Hütten oder Baumhöhlen wohnen. Sie helfen uns – nicht mit Essen sondern indem sie uns ermutigen weiter zu machen. Sie haben es bereits erfahren, als sie als Pilger mehr und mehr Boden unter den Füßen gewonnen haben, mehr und mehr sich selbst erkannten. Es hilft – sagen sie –, wenn wir singen oder murmeln: WER BIN ICH? – immer wieder, Tausende von Malen am Tag. Doch wir sehen auch die Welt, wie sie ist: mal schön, mal beängstigend, mal häßlich. Wir schließen nicht die äußeren Sinne beim Pilgern. Die Erfahrung außen gehört dazu wie die Erfahrung tief innen. Immer wieder hoffen wir, daß wir beides bekommen und uns nicht einseitig ablenken lassen.

Am Ende der Pilgerfahrt sind wir wieder in unserem Dorf. Noch ein paar Tage bleiben wir eng zusammen – bis sich die Gruppe langsam auflöst.

Doch eine große Frage habe ich noch und bitte die anderen, mir etwas dazu zu sagen:
WAS IST GOTT – IST ER AUßEN ODER INNEN? frage ich. Denn ich höre sie selten davon sprechen. Ein alter Mann sagt,
Wer kann das schon wissen? Gibt es Gott?

Doch wir können Gott erfahren, also eher Göttlichkeit, sage ich mal.

Obwohl das Wort ähnlich ist, hat es nichts mit euren Göttern zu tun. Was immer mich ganz tief bewegt, das nenne ich Gott. Für mich ist Gott ganz innen und auch außen.

Du hast doch über die Sieben Punkte oder Blumen gelernt? Wenn ich einen dieser Punkte spüre, dann denke ich, DAS ist Gott! Wir fordern dieses Spüren ja heraus, wir machen es, und dann kommt ein Erfahren von Gott.

Oft denke ich, die kennen Gott gar nicht oder verdrängen ihn. So selten sprechen sie von Gott. Auch wir in Rohan sprechen nicht über Gott aber über die GÖTTER, und wer sich die Göttern ganz tief nähert, erfährt schließlich, daß alle zusammen nur EIN GOTT sind, nur verschiedene Ansichten des einen Gottes. Doch das mögen unsere Priester nicht gerne hören, und sie werden dann sehr kritisch und machen Schwierigkeiten. Doch wieder sind die Ghân freier als wir.

Ein Mann holt eine junge Frau und sagt,

So kannst du es am besten erfahren. Salin´da heißt sie und wird dir eine Erfahrung von Gott bringen. Sie mag dich sehr, und ich sehe, du sie auch. Deswegen ...
Sie streicht mit zarten Händen meinen ganzen Körper, und er fängt an zu zittern und schließlich sich leise zu schütteln. Sie flüstert,
merkst du, wie Gott in dir sich regt? Ich gehe nun tiefer in deine Gefühle, und immer mehr spürst du Gott. Ja, DAS ist Gott. Nun lege ich die linke Hand an deinen Ersten Punkt, berühre still deinen Körper am unteren Ende, und ich lege die rechte Hand oben auf deinen Scheitel, auf den Siebten Punkt.

Dann berührt sie meinen Penis, und den nennen sie „Feuer-Pfeil“, und dann ihre Vagina, und die nennen sie „Feuer-Schale“. Doch wenn Schale und Pfeil kalt und still sind und nicht nach Begegnung und Versenkung streben, dann nennen sie sie „Asche-Schale“ und „Asche-Pfeil“. Sie flüstert mir in´s Ohr,
und nun komm mir ganz nahe, und du spürst in mir Gott, wie ich Gott in dir spüre.

Und, sage ich, ich spüre Gott in dir UND in mir, wie wir zusammen Eins sind, DAS ist Gott – meint ihr das so?

Ja – sieh dir nun deinen „Feuer-Pfeil“ an, und meine „Feuer-Schale“. So stellen wir Gott dar. Wenn es überhaupt möglich ist, ein Bild von Gott zu machen, dann dies. Sie stellen unsere größte Energie dar, und unsere tiefsten Erfahrungen – und da fängt Gott an.

Du hast diese Statuen bei uns schon gesehen? In kleinen Häuschen stehen sie, wir machen sie aus Holz – nur wir jungen Frauen machen sie –, und wir schützen sie vor Regen und Sonne – die Häuschen sind wie unsere Kleidung, zum Schutz. Doch oft gehen wir alle dort hin und danken Gott, daß er sich uns SO zeigt – alle, auch die Männer und die Jungen,
– ergänzt sie auf mein Fragen. Nur aus Holz? Nie aus Stein?

Nein, denn Stein wäre zu hart. Das Weiche ist doch schön, oder? Und Gott ist Erde, weich wie Erde, so wie unser Feuer Erde ist. Unser Gottesdienst ist auch, uns Gott nicht zu verschließen ... wir öffnen uns der Erde so viel wir können – deswegen ist unsere Kleidung so.

Ich hatte diese kleinen Statuen schon gesehen, wußte nur nicht, wie ich fragen sollte. Sie schnitzen eine weit offene „Feuer-Schale“, die auf dem Boden liegt, und einen festen „Feuer-Pfeil“, der von unten sich nach oben aus der Schale hervorstreckt – DAS ist ihr Symbol für Gott. Sie sind nicht höher als zwei Spannen. Ich sah auch schon, wie sie die Statue mit Milch und Honig übergießen und mit roten Blumen schmücken – das Beste, was sie haben.

Das ist doch das Schönste, was Gott uns mitgegeben hat. Und dann noch die andere Seite: der Scheitel. Da oben haben unser Denken und Wissen ihre Heimat. Und auch das ist so göttlich. Ich muß auch DAS an dir berühren, und nun leg´ bitte deine rechte Hand auf meinen Scheitel. Sieh in meine Augen, und du spürst nun, wie sich etwas nach oben in den Himmel bewegen will, wie es nach oben strahlt, an meine Hand, durch die Hand in den Himmel. Sieh tief in meine Augen, jetzt erblicke NICHT die Frau in mir, nur meine Augen. Alles strahlt nun nach oben. Auch das ist göttlich, auch DAS ist Gott – so sehen wir das hier.

So fühle ich meinen ganzen Körper, meine ganze Liebe zu mir und dir. Ja, das ist Gott. Doch nun macht Salin´da eine weite Bewegung mit den Armen, sie breitet die Hände weit aus und bewegt sie wie Wellen, oder wie Vogelflügel, und legt sie dann auf meine Brust. Ich mache es ebenso. Nun überflutet es mich wie eine ganz große Liebe und Zuneigung zu allem, zu allen Wesen ...

Das ist die andere Seite von Gott, sagen wir: In der Mitte zwischen dem Ersten und dem Siebten Punkt liegt das Herz, da ist der Vierte Punkt, die Liebe, das Mitgefühl, Karum sagen wir, das Mitgefühl für die Wildnis, das Außen. Wir sehen alle und alles gelassen an, die Tiere und Pflanzen und Menschen und Geister. Es ist schlicht Liebe, ohne etwas von ihnen zu wollen, sie sind einfach da, und sie sind Teil unseres allumfassenden Mitgefühls – Karum, das für alles ist. Genauso blicken wir auf die schönen und fernen Weißen Berge, auf die Sterne, auf den Mond ... das ist das andere Bild von Gott, das Bild außen.

„Feuer-Pfeil“ und „Feuer-Schale“ ist das Bild von Gott innen, die Wildnis ist das Bild außen.

Betet ihr zu Gott? Trefft ihr euch zu Gottesdiensten? Opfert ihr Gott?

Nein, wozu das alles? Ich gebe mich hin, da gibt es nichts weiter. Alles gehört sowieso Gott, und er ist so groß. Was kann ich da anderes hingeben als mich selbst? Ist Beten gleich Bitten? Nein das tun wir nie, nur dankbar sind wir. Gott hat mir doch so viel gegeben! Noch mehr? Und Gott hat mir die Kraft gegeben, selbst für mich Verantwortung zu tragen. Was gibt es da noch?

Salin´da nimmt mich an die Hand, und wir gehen zu einer Statue von „Feuer-Schale“ und „Feuer-Pfeil“. Sie kniet sich vor der Statue hin, berührt mit den Händen leicht „Feuer-Schale“ und „Feuer-Pfeil“ der Statue und segnet sich selbst am Ersten Punkt, am Vierten und schließlich auf dem Scheitel – und lacht dabei fröhlich und hell. Und dann segnet sie mich in gleicher Weise. Wir sind nun so vertraut mit einander wie Bruder und Schwester.

Wir stehen wieder auf, und Salin´da nimmt eine kleine Trommel und schlägt mit den Knöcheln der rechten Hand einen Takt, der schneller wird. Ich drehe mich im Kreis, drehe mich um meine innen gedachte, senkrechte Achse zwischen meinem Ersten und meinem Siebten Punkt ... und sie dreht sich im Kreis um ihre Achse. Es geht immer schneller, schließlich fühle ich, wie diese Achse in mir ganz wirklich wird, ein dünner fester Faden, an dem alles andere hängt, unten befestigt am Erdmittelpunkt, oben in der Unendlichkeit. Bis es dunkel wird, drehen wir uns um diese Achse. Schließlich fallen wir fast gleichzeitig hin,

und Salin´da sagt noch
,
– leg dich auf den Bauch, der Nabel berührt nackt die Erde, spüre wie dein Atem durch den Nabel in die Erde geht und wieder zurück. Wir bleiben so liegen, bis du oder ich als erstes aufsteht ...


Heft 33. DAS ERED NIMRAIS, DAS WEISSE GEBIRGE – EINE PILGERFAHRT IN EIS UND SCHNEE

Und so bin ich schließlich voll mit diesen Erlebnissen allein hoch ins Gebirge gepilgert – um das Hochgebirge kennen zu lernen, von außen und von innen, ich meine so, wie dieses Gebirge tief innen IN MIR ist. Nicht wie die Faden-Achse des Dreh-Tanzes (eben im Heft 32 beschrieben), sondern das Gebirge ist mein Ganzes ...

Mir scheint, das ist ähnlich wie mit den Jägern und den Tieren: ich verwandele mich in die Gestalt des Gebirges hinein, werde ein Stück dieses Gebirges und seiner Landschaft, bin Gebirge, bin der Fels und die Landschaft und die kristallenen Höhlen, bin die Blumen und Tiere, der Schnee und die Eisgipfel ... Ich glaube, das können nur wir Menschen, sich in eine andere Gestalt hinein zu verwandeln.


Den Weg in´s Gebirge gehe ich allein, nur der Hund Nanók begleitet mich wie auf allen Wanderungen im Ghân-Land. Er ist groß, schwarz mit vielen grauen Haaren, hat einen grauen Ring um die Augen, hellbraune Beine und einen weißen Fleck auf der Brust und an der Schwanzspitze. In diesen Wochen wird sein Fell dichter und bereitet sich auf den Winter vor, besonders am Hals ist es so dick wie bei einem Eiswolf. Meistens läuft er bei mir, läuft auch hin und her wie Hunde das so tun. Doch manchmal – besonders in den Gebirgswäldern – verschwindet er in den Büschen und ich höre jemanden schreiend weglaufen und sein Bellen dahinter. Nach einiger Zeit kommt er zurück und trägt wohl ein Stück eines lang-zotteligen unbekannten grau-braunen Fells in der Schnauze, das er mir gibt. Ich bewahre es auf, man kann nicht wissen, wozu es noch dienen kann.

Nach einigen Tagen kommen wir an den unteren Rand des Ered Nimrais, das riesig, felsig und eisig vor mir aufragt. Die Hänge werden steiler, erst geht ein Pfad durch lichten Tannenwald hoch, in geschlängelten Linien. Dann läuft er in eine Felsschlucht, unten rauscht ein Fluß. Die Schlucht ist sehr schmal und hoch, eine Klamm, und an manchen Stellen ist der Pfad ängstigend, besteht aus Knüppeln, die man irgendwie an der Felswand angeheftet hat oder an Seilen aufgehängt, die weit oben an Bäumen oder Felsnadeln eingehakt sind.



Bild 7: Eingang zur Rauschbach-Klamm. Ihr seht den schmalen Pfad,
der an den Felsen gehängt ist, hier wanderten sogar Schaf- und Ziegenherden.
Rechts unten ein Stück des Fells, das Nanók mir gebracht hat, etwas handteller-groß.

Wie da wohl die Schafe durchkommen, die von den Hirten hier durchgetrieben werden? Es wird dunkel und der Weg wird unsichtbar. Ich muß in der Schlucht übernachten, mehrere Nächte. Diese Nächte sind zuerst schrecklich, der Lärm des rauschenden Wassers, das Rumpeln von großen Steinen im Fluß und viele ungeheure Laute in der Luft: Pfeifen, schrilles Piepen, Schnarren und Schmatzen ... Die Schlucht ist steil und dunkel, nur ab und zu sehe ich den Himmel oder nachts zwei oder drei Sterne. Sonne oder Mond sehe ich nie.

An einem Nachmittag, als es schon dämmrig wird, kommt Nanók nicht zurück. Besorgt gehe ich weiter und komme an eine Erweiterung der Schlucht, wo eine lange Wiese ist und ein kleines Holzhaus steht, es ist blau – das ist eigenartig, da die Ghân keine Anstrichfarben besitzen. Hier hört man das Wasser kaum, da es kein Gefälle hat. Ein Teich ist auch da. Im Haus ist Licht, und ich höre eine helle Stimme leise singen. Vorsichtig gehe ich näher und sehe durch den offenen Eingang, wie mein Hund neben einer Ghân-Frau steht und von ihr etwas zu essen bekommt.

Nanók dreht sich um und kommt auf mich zu und bedeutet mir, mit zu kommen. In der Hütte duftet es nach guter Gemüsesuppe, und die Frau deutet auf ein Holzscheit am Boden auf dem zwei Schalen mit heißer Suppe stehen. Wir setzen uns, und sehen einander in die Augen. Sie hat seltsame Augen, blasses helles Blau, das ich bei den Ghân noch nie sah. Sie nimmt ihre Hände und hält sie wie zum Schutz über ihre Suppe, öffnet die Hände dann über meinem Kopf, streicht mir und sich damit über das Gesicht – und ich merke, wie meine Augen verschwommen etwas anderes sehen: auf der Stirn der Frau noch ein Auge – in der Mitte der Stirn, da wo die anderen Ghân die Schwiele haben. Das dritte Auge blickt eher nach innen als auf mich, die beiden anderen Augen betrachten mein Gesicht aufmerksam.

Es ist sehr ungewohnt und unheimlich. Dieses dritte Auge hat auch eine dicke schwarze Braue, die sich etwas hin und her schiebt. Doch das Auge ist still und ohne Ausdruck nach außen.
Es geht gar nicht anders, mein Blick ist auf dieses Auge geheftet, es saugt mich in sich hinein, die Suppe habe ich vergessen. Tief innen finde ich eine große dunkelblaue Höhle, in der ich nun umhergehe – vorsichtig und mit aufmerksamen Sinnen. Dort ist es still und eine gute klare Stimmung. Ein See ist in der Mitte dieser Halle, und wie ich an seine Ufer gehe, leuchtet es in der Tiefe, und die Ghân-Frau sieht von unten zu mir herauf ... langsam werden die Sinne wieder heller und ich sehe die Frau vor mir in der Suppe löffeln. Die Suppe schmeckt nach allen Kräutern, die ich kenne und bringt mich schnell in einen guten Schlaf die ganze Nacht über.

Vom Nasenstupser meines Hundes wache ich auf und bekomme eine Schale mit Kräutertee und wieder von dieser Suppe. Doch die Frau ist nicht zu sehen, sondern ein Ghân, jung und nackt, den ich abends nicht gesehen hatte, bringt mir den Tee und die Suppe. Der Kleine hat viele lange bunte Wollschnüre um den Hals gehängt, an denen ein paar gläsern-rosa Perlen aufgezogen sind, einige dieser Wollschnüre schmücken die Schenkel und reichen sogar bis zum Boden. Wie ich dem kleinen Ghân in die Augen sehe ... es ist wieder dasselbe Gesicht wie am Abend – es ist wieder die Frau ... wieder macht sie diese Bewegungen mit den Händen und alles beginnt zu verschwinden, ich finde Nanók und mich am Wegesrand sitzend wieder, und eine Schafherde zieht vorüber, hinunter in die Hochebene der Ghân. Dann geht unser Weg weiter hinauf durch die schlimme Schlucht.

Noch viele Tage erscheint mir immer wieder die Frau und das Kind – sie treten klar vor meine Augen und verschwimmen wieder, mal so, mal so. Und immer wenn sie erscheinen, klingt ein leise-heller Ton in den Ohren, er ist mir lieb geworden, und wenn er nicht klingt, sehne ich mich nach ihm.

Erst zwei oder drei Tage später kommt oben wieder Licht und Sonne. Von weit über mir stürzt sich das Wasser tief in einen Tobel, der unter mir ist. Es ist sehr laut, gischtiges Wasser stäubt durch die Luft, und immer wieder fliegt ein großer Ast mit der Gischt in die Tiefe. Ich suche einen Weg weiter nach oben und finde zweierlei: einen steilen schmalen Steig und neben mir den Eingang in eine Höhle, in dem Spuren von Schafshufen sind. Ich traue mich nicht, in die Höhle zu gehen sondern steige mühsam nach oben, neben dem laut rauschenden Wasserfall. Mit dem Wasser fallen laut Steine und ganze Bäume nach unten, einige der Baumleichen schlagen beim Fallen weit um sich, und es ist gefährlich, weil sie manchmal bis zu dem Steig schlagen. Ich muß sehr aufmerksam gehen und bleibe oft stehen, um abzuwarten, daß sich eine Lage wieder ändert.

Nach einem halben Tag oben angekommen, sehe ich einen aufwärts geneigten grasigen Hang mit Gruppen leichter Hängebirken; dahinter die steil aufragenden Felsen mit Eis und Schnee auf den Spitzen, in treibende Wolkenkörper gehüllt und ab und zu frei gegeben. Hier stürzt sich der Fluß leise über eine breite Felsstufe in den Tobel, in dem die Wasser toben und aus dem unten die Schlucht hervorgeht, durch die ich gerade mühsam hochgekrochen bin. Auf diesen Wiesen blühen bunte Blumen, und es brummt von den vielen riesigen Bienen, sie sind fast so groß wie eine Menschenhand. Ihr Leib ist hellblau und schwarz geringelt, die durchscheinenden Flügel hell orange und dunkel geädert. Wieder bekomme ich Angst, was werden sie tun, wenn ich ihnen zu nahe komme? Kann ich einen Stich überhaupt überleben? Doch Nanók schnappt nach ihnen, und er scheint gar nicht zu leiden, schüttelt nur seine Schnauze.

Für meinen Weg in die Berge trage ich mehr Kleidung als sonst: ein oder zwei Filzhemden auf dem Leib, über die Beine lange Filzstrümpfe ohne Füßlinge, die mit einem Band an einem Leibhemd angenestelt sind, und darüber ein langes Fellhemd bis zu den Knien, auch habe ich dicke Schuhe und noch mehr Kleider eingepackt. Oft sitze ich und sehe nach unten in die Täler und Ebenen, versinke in diese schönen Anblicke. Je höher ich gehe, erkenne ich immer mehr von den Tieflanden des Andranon jenseits der Hochebene der Ghân. Ich sehe nun, was ich vorher nur von Karten kannte: die Flüsse und Wälder, doch am meisten sehe ich die blassen Weideflächen für die Pferde und an manchen Stellen ein Dorf und gewundene Flüsse, an denen Bäume stehen.

Jeden Tag begegnet mir eine Schaf- oder Ziegenherde mit Hirten, ganze Familien reisen mit den Tieren. Alle sind Ghân. Sie sehen, daß ich fremd hier bin, und warnen mich vor allerlei Gefahren, besonders vor den Berg-Trollen, die in dunklen Wäldern und Schluchten hausen und nicht nur Gemüse essen sondern auch mal auf die Jagd gehen, auch auf Menschen. Die Trolle benutzten beim Jagen dieselben Techniken, sich in ihr Opfer hinein zu verwandeln wie die Ghân-Jäger bei den Hirschen. Wenn ich jedoch aufmerksam und der Umwelt zugewandt durch die Berge ginge, würde ich frühzeitig diese Gefahr spüren und kann ihr entgehen, denn sie sind grob und tolpatschig.

Sie versuchen, dir große Steine über den Weg zu werfen, auch welche hinter dich, so daß du voller Furcht bist auf deinem Pfad. Sie heulen dabei wie Wölfe, die ihr Rudel zusammenrufen. Es macht sehr viel Furcht und du zitterst und klapperst am ganzen Körper, das können sie hören und riechen. Und bis du dich von deiner Furcht erholt hast, steht schon einer hinter dir und reißt dich am Kopf nach hinten. Das geht nur, wenn du nicht klar und aufmerksam bist – und das spüren sie. Obwohl sie tolpatschig sind, gehen sie sehr leise und schnell, besonders im Gebüsch sind sie geschickter und schneller als Menschen.

Und was machen sie dann? frage ich zitternd vor Furcht.

Wenn es so geht, wie sie wollen, greifen sie von hinten schnell an deine Kehle, reißen sie herum und beißen sie durch. Du bist bald tot, manchmal lassen sie ihre Opfer auch bei Bewußtsein ausbluten (so machen die Rohirrim es mit Schlachttieren, die sie den Göttern opfern wollen) – aber das willst du ja nicht, oder? Sie schleppen dich ins Gebüsch, ziehen dir schnell die Kleidung vom Leibe und beginnen sofort, deinen noch warmen Leib auf zu fressen, so wie Wölfe, zuerst saugen sie dein heißes Blut, dann reißen sie deine Eingeweide raus. Die Geier und Wölfe sind auch gleich in der Nähe und passen auf, wann sie dran sind – aber das alles willst du doch nicht, oder?

Das will ich wirklich nicht, und ich mache mir Gedanken, ob ich nun weiter oder wieder zurück ins Dorf gehen will. Und wo kann man sicher schlafen? frage ich. In Hütten, die Trolle gehen nie unter ein Holz- oder Strohdach, aber Felsnischen sind nicht sicher. Es gibt genug Hütten am Weg in die du dich retten kannst. Dafür wurden sie gebaut.

Ich schließe mich einer Ziegenherde an, gehe mit der Hirtenfamilie und den Hunden. Sie sagen, daß treue Hunde als Begleiter gut seien, denn vor Hunden hätten die Trolle Angst. Sie geben mir noch einen zweiten Hund, doch er rennt nach zwei Tagen weg.

Ich sehe keine Trolle und verliere die Furcht vor ihnen, doch die Wachheit bleibt – es geht in diesem zerklüfteten Gebirge gar nicht anders. Doch viele Geier sehe ich, und wenn sich welche hoch oben im Himmel ansammeln und kreisen, denke ich sofort an einen Troll und seine arme Beute. Man gewöhnt sich jedoch an solche Dinge, anderes ist wichtiger – wie das aufmerksame Beobachten der äußeren Wildnis und tief innen alles, was vor dem inneren Auge auftaucht, und ich beobachte meine Gefühle.

Diese sind hier oben allerdings von besonderer Art: In der klaren und kalten Luft und in dieser losen und hängenden Kleidung, die die Luft an die Haut heranläßt, beginne ich wieder einmal zu spüren, wie ich mit allem Eins bin – nicht nur meine Sinne sondern noch mehr ich ganz! Hier oben ist es heute so still, meine Ohren hören die inneren Bewegungen des Körpers, sie hören die Gelenke und Muskeln, sie hören wie es in den Därmen rauscht und knirscht, das Strömen des Blutes und der Herzschlag, ich bleibe still stehen, es wird ruhiger und mir ist, als ob ich das Strömen der feineren Körper-Säfte fühle.

Ein dickes Schafsfell habe ich um Kopf und Schultern gewickelt, so bin ich warm ummantelt, doch Füße, Beine und Unterleib haben sich dem Zuströmen geöffnet, ich binde sie nicht mit Stoff oder Leder ein, schütze sie nicht – selbst bei der Troll-Gefahr, die in der Luft zittert. Die Nähe zur Erde wird immer stärker und vibrierender. Die beiden unteren Punkte sind es, die lebendig sind, sich drehen, rasend schnell drehen. Innen wird es immer lebendiger, mein Körper will hier allein sein. Ich senke mich auf die Knie, schiebe die Kleidung zur Seite, setze mich zwischen meine seitlich abgewinkelten Schenkel und lasse den Körper ganz dicht an die Erde, nackt, sie berühren sich, und wie ein Pfeil bohrt sich die Erde-Kraft in meinen Leib. Ich verschmelze mit der Erde, wir sind Eins, wie ein Verschwinden in die Erde hinein.


Nun will mein Körper auch die Nähe eines anderen Körpers, eines Frauenkörpers. Die Erde ist diese Frau, sie macht mich zittern wie trockenes Laub in warmem Herbstwind. Sie streicht über meinen Bauch, die Schenkel, den Rücken, mal mit weichen Händen, mal kratzt sie mit harter Erdkruste, mal sticht sie, ihre Berührungen sendet sie mittels der harten und weichen Halme und Blumen und mittels der Kiesel und Sandkörner, die unter und neben mir sind.

So wandert die Lebendigkeit der Frau Erde hinauf zum dritten Punkt, es ist wie eine kleine Kette, die sich im Körper von unten nach oben aufrichtet und die Punkte verbindet, unten ist sie in der Erde verankert. Der ganze untere Leib ist wie ein Tier, das für immer mit der Erde vermählt ist. Ganz wach sehe ich alles, was geschieht, wie Erde und ich mehr und mehr eins werden und ineinander fließen.

Schließlich erreicht meine Wachheit den Hals, und ein lautes und helles Jubeln und Lachen kommt heraus und füllt die kühle Leere der Gebirgsluft. Meine Arme werfen sich nach oben, und die Erde lacht durch meinen Hals. Und wieder kommt dieser Knall, wie die Kette sich oben durch die Schädeldecke bricht und sich nach oben hinaus streckt und nun wie ein scharfes Lichtbündel ins Unendliche strahlt. Mir ist, als ob das um meinen Kopf gewickelte Fell wegfliegt und der kalte Lufthauch die Haare aufbläst. Da finde ich mich, wie ich auf dem Bauch auf der Erde liege, mein Leib saugt alle Düfte und Gefühle auf, die mir geboten werden. Noch mehr verschmelze ich ...

Langsam, langsam beende ich diesen Wirklichkeits-Traum und stehe wieder auf. Verwundert sehe ich umher und begreife in langen Zügen, wo ich bin. Wo ich noch nie war, und diesen Zeit- PUNKT gibt es nicht, er ist die Ewigkeit. Ich fühle mich wie ein klarer Kristall, klar und ohne Makel, durch den das Sonnenlicht ohne Hindernis fließt.

Die Sinne finden zurück in die Hochgebirgswelt; Suche nach einem Nachtplatz. Hier sind keine Bäume, nur noch kniehohe Büsche, sie blühen knallrot und -lila, von den großen Bienen und anderem Flieggetier werden sie umsummt, auch riesige Schmetterlinge kreisen langsam, sie haben schwarze Ringe und große rot-lila Tupfen und auf den weißen Flügeln – ähnlich den Blüten. Andere große Schmetterlinge haben spitze schwarze Flügel mit hellblauen Zeichen, sie umkreisen mich langsam als wollten sie mich erkennen. Ich sehe einen Tropfen an ihrem Kopf hängen, und wie ich mal einen auf einer Blüte sitzen finde, sehe ich mir diesen Tropfen an, nehme ihn mit dem Finger ab und probiere ihn mit der Zunge – es ist Honig!

In einem kleinem Tälchen stehen die Büsche höher, darunter eine Hütte, schützende Felswände und eine Feuerstelle. Sammele mir trockenes Holz – nicht ohne die Erde vorher darum gebeten zu haben und ihr zu danken – und mache sparsames Feuer. Großes Bedürfnis nach Sitzen und Zusehen. Schlichte, langsame Bewegungen. Eins-Sein, eins-Sein, Einheit, Ausstrahlen von Wärme und Lebendigkeit. Weiß nicht, wie das mal wieder anders werden wird. Habe kein Bedürfnis danach. Sehe die Welt hell und klar und ganz, ohne innere Berührung, ohne Anteilnahme – nur stille Freude.

Das Schlafen, die ganze Nacht ein helles Schlafen, vom inneren Auge angesehen. Nur so, ohne Gedanken. Keine Träume, nur Einfachheit. Vollmond ohne Wolken. Morgens Erwachen aus der Stille in die klare aufgehende Sonne hinein, in das gelassene Singen eines Vogels. Aufstehen, zum Bach gehen, waschen, trinken, Holz sammeln und kleines Feuer anzünden, Tee kochen. Der Dampf über´m Topf kringelt sich wie ein dichter starker Geist – doch er verschwindet oben in der kalten Luft und läßt keine Spuren zurück. Der Tee erinnert an die Frau in der Schlucht mit der heißen Suppe, es ist schon wieder ein paar Tage her.

Erst nach Stunden unter dem Dach gehe ich weiter, ich bin wieder hier und in dieser Zeit. Verschiedene Wege gehen bergaufwärts, die sich trennen und wieder verbinden. So sieht es auch innen aus, so sind meine Wege. Mein Hund mag das alles so wie es ist und bleibt immer sehr nahe, läßt sich kosen und streicheln. Einmal fängt er sich ein wildes Huhn und ißt es auf, ich nehme ein paar Federn um mich später damit zu schmücken.

Über die Bergwiesen stolziert ein eigenartiges Wesen: es sieht ein wenig aus wie ein Storch, doch wie es näher kommt, erkenne ich, daß es so dünn wie Papier ist. Es klappert mit dem roten Schnabel, doch es ist nichts zu hören. Eine kleine Brise macht das Wesen flattern wie ein Papierbogen. Es ist so groß wie ich, doch sieht es aus wie eine karge Zeichnung eines Storches auf ein großes Papier und dann ausgeschnitten. Das Wesen schnappt nach Fröschen und Heuschrecken, die auch aussehen wie aus Papier gemacht. Es geht hier und da hin ohne mich zu sehen. Dem Hund ist es auch völlig gleichgültig. Was ist das? Bin ich abwesend, bin ich in einer falschen Welt? Es scheint zu sagen,

paß´ doch auf, sei ganz hier!

Ich öffne alle Sinne und bin so wach wie möglich – und da ist es verschwunden, nur ein Fetzen Papiers wird vom Wind fortgewirbelt. Ein Bild, das mir etwas zeigen will, das ich nicht in Wörter bringen kann. Nur ein vages Bild?


Bild 8: Im Ered Nimrais, der papier´ne Storch und vorne rechts mein Freund Nanók.
Ganz links stehen die blauen Blumen, deren Saft die Ghân zum Heilen des Herzens nutzen.
Aus der Wurzel der gelb-blühenden Pflanze ganz vorne brauen sie einen kräftigen, berauschenden Saft für den Winter.
Über die abfallende Ebene verteilt stehen viele Karz-Büsche.

Nun steige ich in einen Wald mit riesigen Zirbelkiefern, ich verliebe mich in sie, sie streichen mir mit ihren nadeligen Händen über Gesicht und Kleider, voller Liebe auf ihrer Seite. In den Astgabeln brüten Drosseln mit hellgrauen Rücken – wie oft brüten sie eigentlich in diesem Jahr? Wie ich weiter steige, sehe ich hoch oben Zirbelkiefern, die so aussehen, wie ich mir Trolle vorstelle: klein, verbogen und verschrumpelt, bucklig und mit Riesen-Augen. War es das, wovon die Hirten mir erzählten? Manchmal erschrickt sich sogar der furchtlose Nanók, und er knurrt sie an. Ich fasse das Stück Fell an, das er mir brachte und denke, das ist von einem Troll.

Eine Herde aus kleinen Schafen und Ziegen kommt den Berg herab, zwei Hirtenfamilien dabei und wohl zehn Hunde. Die Hunde sind alle gold-braun mit dickem Fell, die Ohren und Schwänze aufrecht. Wie sie mich sehen, halten die Hirten an und meinen, sie wollen mit mir übernachten, denn es ist schon nachmittags. Sie kennen eine große Hütte in einem Seitental, wir sammeln unter den Büschen trockene Holzstücke und suchen nach Wasser.

Nicht weit ist ein Teich, die Kinder gehen in den Teich, obwohl das Wasser so kalt ist, dann auch ein paar Erwachsene. Es ist schön, ihre nackten Leiber zu sehen, ich gehe auch ins Wasser und erlebe wieder etwas wie in der letzten Nacht: nun ist da die Verbindung mit dem Wasser und danach mit der kalten Luft, die die Haut trocknet. Ein paar Hunde schwimmen mit, meiner auch, es ist merkwürdig, mit
einem Hund zu schwimmen, sie sind sehr schnell, auch im Wasser. Hinterher sehe ich mir Nanók´s Pfoten an: ja, da sind kleine Schwimmhäute zwischen den Zehen.

Nanók legt sich auf die Seite und läßt sich kraulen. Immer wieder sieht er mir in die Augen, er liebt mich und ich ihn auch. Er ist ein Schutz für mich, vielleicht ich auch für ihn. Er hilft, unangenehme Geister fern zu halten. Die Hirtenkinder sagen, oh, ist das ein süßer Hund, und er freut sich über diese Worte. Sie spielen mit ihm, und werfen Stöcke, die er zurückholt, auch aus dem Wasser, mit einem langen Satz springt er hinein. Ihre eigenen Hunde sind ihnen nun unwichtig, sie sehen sie ja täglich, und die sind auch nicht eifersüchtig. Manchmal balgen die Kinder mit Nanók im Gras – bis sie schreien müssen, wenn er mal versehentlich ihre Haut mit einer Kralle gekratzt hat – bis Blut kommt.

Die Schafe und Ziegen tragen kleine Lasten, die über Nacht nicht abgenommen werden, weil es so schwierig ist, sie wieder anzuschnallen. Die Tiere wehren sich. Sie haben Lasten über das Gebirge getragen, Käse, Wolle, Schaffett, Knöpfe und anderes, das aus den Knochen und Hufen der Felsböcke gemacht ist, und auch bunte Steine, die die Ghân mit Hilfe von Zwergen im Gebirge schürfen. Die Hirten haben drüben im Lamedon oder Pavion Salz vom Meer und bunte Tücher erworben, seit kurzem ist das etwas Neues für die Ghân, sie werden sich damit schmücken. Einige der Hirten haben sich mit den Tüchern bunt umhängt und spielen mit ihnen im Wind, wenn er mal weht. Nachts sitzen wir zusammen unter dem Dach, am Feuer, wir singen, und Flöten werden gespielt. Einige junge Leute, auch die kleinen, tanzen. Ich frage nach den Trollen und nach den Wegen auf der Südseite des Gebirges. Sie lachen über meine Troll-Geschichte, aber man könne nie wissen. Spuren von ihnen haben sie alle schon gesehen, und Knochenreste von Menschen und Tieren finden sich tatsächlich manchmal an versteckten Stellen.

Wenn wir so etwas finden, halten wir an, machen ein Feuer und werfen die Knochen hinein. Wir bitten Ulam, die armen Seelen – Mensch oder Tier – zu helfen, in eine gute Neugeburt zurück zu finden. Und dann sagte ein älterer Hirte mit großem Ausdruck:
Wir haben so viel Glück, daß wir dieses kostbare Leben als Mensch erreicht haben. Ulam wünscht sich, daß wir diese seltene Gelegenheit für die spirituelle Entwicklung nutzen, sonst kommt man nie wieder als Mensch auf die Welt. Das ist vielleicht etwas übertrieben gesagt, aber wie selten wird man als Mensch wiedergeboren? Es gibt überall so viele arme Wesen, die nicht dieses Glück haben, die Lehren Ulam´s zu hören und zu verstehen und mit ihnen ein seliges Leben zu leben. Und in den Körper eines solchen unglücklichen Wesens kann eine Seele sehr leicht hineinrutschen, wenn man nicht aufpaßt, wenn man kein ”gutes Leben” lebt. Dagegen ist eine Wiedergeburt als Mensch sehr selten, und noch seltener ist es, als Ghân wiedergeboren zu werden, und dazu noch als ein Freund Ulam´s. Das möchte ich nutzen.

So kann man das auch sehen. Für mich ist das eine wichtige Lehre, und ich nehme mir vor, mich danach zu richten.

Hinten in der Hütte ist eine Statue von Ulam, sie ist aus weichem roten Stein geschnitzt, ganz neu und frisch. Die Hirten sagen sie ist nicht älter als 12o Jahre. Abends setzen wir uns zu Ulam´s Statue und beugen uns in Dankbarkeit vor ihr. Dann summen wir eine lange Zeit zusammen, und es entsteht eine weiche gemeinsame Stimmung, wir lieben alle und alles und fühlen uns einander sehr nahe. Nachher am Feuer sitzen wir dicht zusammen und berühren und streicheln einander die Körper und die Punkte. Einige schlafen, andere nicht. In der klaren und stillen Nacht sehen wir eine große Sternschnuppe über den Himmel eilen und verlöschen. Gleich danach kommt der Mond hinter einem Bergfelsen hervor, die Schnuppe hatte fast seine Größe. Wir genießen diese Schönheiten.

Nach zwei Tagen trennen wir uns wieder. Versonnen und wieder ein Stück geheilt durch diese Begegnung steige ich weiter die Berge hoch. Die Zirbeln werden kleiner und krumpeliger.

Bald stehen da nur noch blaugrüne verknorkelte Büsche, deren Nadeln und Beeren wunderbar herb-würzig duften, die Ghân sammeln die dunkelblauen Beeren und bereiten daraus ein würziges Getränk für den Winter. Sie nennen diese Büsche Karz. Später höre ich, daß die Wurzeln zu einem Getränk benutzt werden, das verhindert, daß die Frauen ein Kind empfangen. Und dann gehe ich nur noch über grüne und weiß und rot blühende Wiesen bis der Schnee beginnt.

Doch in den Talsenken, wo die weißschaumigen Bäche fließen, liegt wenig Schnee, und wir gehen gut voran, in Schlangenlinien zwischen den Felsbrocken und Steinen. Die Passhöhe liegt noch weit entfernt hoch über mir, und es ist ein Wunder, wie die Herden da immer wieder durchkommen, so viele zerbrochene hartkantige Steine liegen hier. An feuchten Stellen mit Erde stehen Gruppen von dunkelblauen Blumen, schlanke hoch aufgerichtete Stengel mit vielen Blüten. Auch diese Pflanzen nehmen die Ghân als Medizin, besonders bei Herzschmerzen. Dann sehe ich ähnliche, noch höhere Blütenkerzen in Gelb, andere in Purpur, aus den Wurzeln machen sie ein starkes Getränk für den Winter, es ist ein berauschendes Getränk mit eigenartigem und wunderlichen Geschmack. Die Blätter aller dieser Blumen sind groß und dunkelgrün und längs gerieft.

Ein Seitenpfad geht in eine Senke, aus der das Wasser auf der anderen Seite in eine Klamm ausströmt. Hier ist es sehr warm, und Büsche und kleine Bäume wachsen, das Gras ist warm-grün, und ein paar Berg-Gazellen grasen gelassen. Das ist eine andere Welt als vorher, die Quelle in der Mitte der Senke ist warm. Abseits steht eine Hütte, unter dem Vordach ein junger Mann – ein Ghân – ...

... – ganz in sich versunken, seine Augen sind offen und sehen ins Leere, in die Weite. Scheinbar nimmt er mich nicht wahr, und ich setze mich einige Schritte abwärts ins Gras. Bald werde auch ich ganz still, auch mein Hund, er bleibt sitzen und tut nichts, selbst als ein anderer Hund leise ankommt und sich daneben legt.

Zum nächsten, dem 9. Buch: http://GhaninRohanNeun.blogspot.com

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